Psychische Erkrankungen sind häufigste Ursache für Frühverrentungen, dennoch verhindert die deutsche Gesetzgebung faktisch die Zulassung neuer Neuropsychopharmaka: Zum ersten Mal bezogen Wissenschaftler, Ärzte und Patientenorganisationen gemeinsam und öffentlich zur Problematik der Bewertung von Neuropsychopharmaka im Arzneimittelmarktneuordnungsgesetz (AMNOG) Stellung und warnten vor negativen Folgen des Zusatznutzensystems. Der Parlamentarische Abend, der vor kurzem im Rahmen der GESENT-Initiative im Deutschen Bundestag in Berlin stattfand, war Auftakt zur Informationskampagne über sich abzeichnende negative Konsequenzen des AMNOG in diesem Bereich.
Hochkarätige Referenten beleuchteten auf dem Parlamentarischen Abend das AMNOG-Dilemma aus der Sicht von Wissenschaft und Praxis. „Wenn bei aussichtsreichen, von Patienten und Fachärzten gelobten Medikamenten im AMNOG-Verfahren kein Zusatznutzen festgestellt wurde, dann ist das ein alarmierendes Ergebnis“, betonte Universitätsprofessor Dr. Peter Riederer, Präsident von GESENT e.V. Betreffende Medikamente würden in Deutschland nicht auf den Markt kommen. „In Deutschland geraten wir im Bereich Neuro-Psychopharmaka gegenüber der Medikamentenversorgung anderer Staaten langsam, aber sicher in Versorgungsrückstand.“ Die forschenden Arzneimittelhersteller stuften demnach den deutschen Markt nicht mehr als prioritär ein und verlegten in der Folge die Medikamentenentwicklung ins Ausland.
Prof. Dr. Walter Schwerdtfeger, ehemaliger Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM), unterstrich, dass psychische Erkrankungen die häufigste Ursache von Frühverrentungen seien. Sie träten in Deutschland bei mehr als 25 Prozent der Erwachsenen auf und zählten zu den vier wichtigsten Ursachen für den Verlust gesunder Lebensjahre. Sie führten zu Kosten im Gesundheitswesen von rund 45 Milliarden Euro pro Jahr.
Für die Bewertung des Zusatznutzens gebe es keinen internationalen Konsens. Schwerdtfeger plädierte daher für europäisch einheitliche Kriterien. Bei der frühen Nutzenbewertung (FNB) lägen keine Praxiserfahrungen aus dem Versorgungsalltag vor. Eine erneute Nutzenbewertung (ENB) komme häufig zu einem anderen Ergebnis als die frühe Nutzenbewertung.
Die Auswirkungen der vergleichenden Nutzenbewertung bei neuen Psychopharmaka seien dramatisch. Wenn Tagestherapiekosten zwischen 15 und 35 Cent und Festbeträge für eine Monatspackung teilweise unter einem Euro lägen, rechne sich die Markteinführung in Deutschland nicht. Als Beispiel nannte Schwerdtfeger Vortioxetin, das erste Antidepressivum mit günstigen Wirkungen auf Gedächtnis und Exekutivfunktionen. Die Europäische Arzneimittel-Agentur (EMA) habe das Medikament zur Behandlung von Depressionen zugelassen, doch Deutschland erkannte „keinen Zusatznutzen“. Der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) habe die Tagestherapiekosten auf 9 Cent veranschlagt, worauf der Hersteller das Produkt wieder vom Markt genommen habe.
In 84 Prozent der ausgewerteten Verfahren resultiere die Bewertung „kein Zusatznutzen“ allein aus formalen Gründen wie Verfahrensmängeln, angeblich unzureichender Daten oder fehlender Nachweise.
Professor Dr. Wolfgang Jost von der Parkinson-Klinik Ortenau, Wolfach, brachte mit dem VW-Käfer aus seinem Geburtsjahr ein anschauliches Beispiel über den Begriff des Zusatznutzens: Entsprechend der AMNOG-Definition hätten alle späteren VW-Modelle keinerlei Zusatznutzen im Vergleich zum Käfer-Modell von 1959, obwohl es damals noch keine Sicherheitsgurte, Kopfstützen und diverse Assistenzsysteme gegeben habe. In Analogie zum AMNOG-Zusatznutzen zähle beim Auto nur das Ziel, von A nach B zu gelangen, gleich ob es sich um einen alten VW-Käfer oder einen neuen Golf handle. Komfort und Sicherheitsstandards spielten keinerlei Rolle. So erhebe sich die Frage, ob Medikamente mit weniger Nebenwirkungen tatsächlich keinen Zusatznutzen haben.
Bei Psychopharmaka herrsche heute eine unglaubliche „Billigmedizin“ vor, die Tagestherapiekosten bewegten sich im Cent-Bereich. Dagegen falle im Bereich der Onkologie eine veritable Kostenexplosion auf.
Professor Dr. Ulrich Hegerl, Vorsitzender der Deutschen Depressionsliga, zitierte die Deutsche Rentenversicherung Bund (2018): Psychische Erkrankungen seien bereits zu 43 Prozent der Grund für frühzeitige Berentung. Im Jahr 1983 seien es erst 8,6 Prozent gewesen. Jedes Jahr seien acht Millionen Menschen betroffen, deren Depression behandelt werden müsse. Die Behandlung erfolge überwiegend mit Antidepressiva.
Als bedrohliche Entwicklung sah Professor Hegerl, dass mehrere große Pharmaunternehmen die Forschungslinien zu Psychopharmaka geschlossen haben. Der Nachweis von Zusatznutzen sei bei Depression schwieriger als bei vielen anderen Erkrankungen, da weder die Diagnose noch der Nachweis des Behandlungserfolges an Hand von Laborwerten oder andere Biomarker erfolgen könne und so aufwändigere und teurere Studien nötig seien. „Der Anteil der Forschungsressourcen, der in den Bereich Depression fließt, ist in keiner Weise der Häufigkeit und Schwere dieser Erkrankung angemessen. Das AMNOG trägt auf Kosten der depressiv Erkrankten zu dieser Fehlallokation der Forschungsressourcen bei.“ Die Ablehnung neuer Substanzen führe dazu, dass die Möglichkeiten, für den einzelnen Patienten ein optimales Profil hinsichtlich Verträglichkeit und anderer Aspekte wie Medikamentenwechselwirkungen zu finden, eingeschränkt seien.
Joachim Maurice Mielert. ehemaliger Unternehmer und selbst Parkinson-Patient, regte an, den Betroffenen und den Selbsthilfeorganisationen wie der Deutschen Parkinson Vereinigung mehr Gehör zu schenken und deren praktische Erfahrungen in die Meinungsbildung einfließen zu lassen. „Wir wollen nicht nur ’nehmen‘, sondern aktiv beteiligt werden und auch ‚geben‘.“ Denn kaum einer der Akteure aus Wissenschaft, Politik und Gesundheitsökonomie habe selbst auch nur einen einzigen Tag lang Morbus Parkinson erlebt, jeder sei nur mit theoretischem Wissen ausgestattet.
Friedrich-Wilhelm Mehrhoff, Geschäftsführer der Deutschen Parkinson Vereinigung, verwies darauf, dass es seit dem Inkrafttreten des AMNOG 2011 kein neues Parkinson-Mittel gebe. Die Zusatznutzendefinitionen seien inadäquat. Der Patientenvertreter plädierte für die Einführung eines „späten Nutzens“ als Kriterium, basierend auf jahrelanger Erfahrung und breiter Anwendung eines neuen Präparates, zumal es sich um eine chronische Krankheit handle.
Prof. Dr. Gerd Laux, Vizepräsident von GESENT e.V., fasste zusammen, dass angesichts der Bedeutung neuropsychiatrischer Erkrankungen die Weiterentwicklung und Einführung innovativer verbesserter Medikamente essenziell sei. Die AMNOG-Kriterien für Zusatznutzen seien für die überwiegend chronischen neuropsychiatrischen Erkrankungen dringend zu revidieren und zu optimieren.
Hintergrund
GESENT e.V. ist die Deutsche Gesellschaft für experimentelle und klinische Neuro-Psychopharmako-Therapie. Die Initiative will die Bedingungen für die Bereitstellung neuer wirksamer Neuropsychopharmaka verbessern, da zwischen den Playern wie Krankenkassen, Zulassungsbehörden, Ärzten sowie Vertretern der Krankenhäuser, der Patienten und der Pharmaindustrie immer größere Divergenzen erkennbar seien.
Ziel der GESENT-Initiative ist es, Ärzte, Apotheker, Politiker, Bevölkerung und Medienvertreter über die Problematik zu informieren. Ärzte aus Kliniken und Praxen sollten ebenso in Gremien mitwirken können wie Patienten, Betroffene und deren Angehörige mit ihren praktischen Erfahrungen, um das AMNOG für Neuropsychopharmaka zu verbessern.
Quelle: https://www.presseportal.de/pm/133463/4247816
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